Entzug österreichischer Hilfsgelder an Palästina nach dem 7. Oktober – ein Rückblick

Entzug österreichischer Hilfsgelder an Palästina nach dem 7. Oktober – ein Rückblick

5. Mai 2024

5 Min. Lesezeit

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Abdullah Al-Mukhlis

Erstickende Umstände

Der Gazastreifen, oder das Freiluftgefängnis, wie ihn der deutsche Publizist und Nahostexperte Michael Lüders bezeichnet, ist seit Jahrzehnten signifikanten wirtschaftlichen Einschränkungen ausgesetzt. Seit 2007 leidet die Wirtschaft und folglich die Bevölkerung unter drakonischen Gesetzen, wie etwa einer stringenten und isolierenden Land-, See- und Luftsperrung und bestehenden Importverboten von wesentlichen Technologien und humanitären Hilfsgütern.

Darüber hinaus erfuhren die Gazaner im Laufe dieser Blockade destruktive Offensiven des israelischen Militärs auf wichtige Infrastruktur wie Produktivvermögen. Dazu zählt beispielsweise die 50-tägige Offensive im Sommer von 2014, bei der das israelische Militär Bombardierungen und Artilleriebeschuss von Arbeitsplätzen, Bauernhöfen und weiterer Wirtschaftsinfrastruktur ausführte. Die Folgen: Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) sprach von einem direkt konsequenten BIP-Verlust von rund 508.000 USD pro Arbeitstag und einem drastischen Anstieg der Arbeitslosenrate von 4,3 auf 36,9 Prozent.

Aktuelle Lage

Nach 17 Jahren dieser Umstände ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage im Gazastreifen verheerend. Internationale Hilfe war laut der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) schon vor der Al-Aqsa-Flut Operation der Hamas am 7. Oktober für 80 Prozent der Gazaner lebensnotwendig. Seither ist die Lage nur katastrophaler geworden – eine fast vollständige und vollkommene Zerstörung von ziviler Infrastruktur und Gesundheits – sowie Bildungseinrichtungen. Es würde laut UNCTAD Dutzende Milliarden Dollar und mehrere Jahrzehnte brauchen, bloß um die jetzigen Demolierungsschäden aufzuheben. Bezüglich der Gesundheitslage ist die gesamte Bevölkerung akut von einer Hungersnot bedroht. Jedes dritte Kind unter 2 Jahren ist akut mangelernährt und Gaza als Ganzes ist zum gefährlichsten Ort der Welt für Kinder geworden. Ein absoluter Zusammenbruch der Wirtschaft und der Gesundheit ereignet sich laufend.

Internationale Grundsätze

In Anbetracht dieser verheerenden Lage sind unbedingte internationale Hilfeleistungen seitens der UN und ihrer Mitgliedstaaten zu erwarten. In der UN-Charta ist nämlich verankert, dass einer der Zwecke der UN darin liegt, an den Lösungsansätzen für weltweite Probleme wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder humanitären Charakters zu arbeiten. Des Weiteren besagt die UN, dass sich die internationale Gemeinschaft auf sie verlässt, wenn es um humanitäre Versorgung an jenen Orten geht, in denen allein die Hilfe der nationalen Behörden nicht ausreichend ist.

Österreichs Agieren

Diesem festen Grundsatz der UN ging die Bundesregierung Österreichs im Jahre 2022 schleunigst nach. Anlässlich des russischen Angriffskrieges erhielten die ukrainische Zivilbevölkerung und die ihrer Nachbarländer über 124 Millionen Euro staatliche Hilfe von der österreichischen Regierung. Dieselbe Regierung zögerte allerdings nicht, anlässlich der am 7. Oktober eskalierten Kriegslage zwischen der Hamas und Israel sämtliche Zahlungen der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (OEZA) an Palästina – etwa 19 Millionen Euro – einzustellen. Dieser Entzug geschah genau dann, als 80 Prozent der palästinensischen Bevölkerung solche Hilfsgelder buchstäblich um ihr Leben brauchten.

Die Bedeutsamkeit dieser Gelder für die Krisen- und Notfallversorgung in Palästina unterstreicht die OEZA selbst auf ihrer Webseite. Es heißt nämlich, "Die Österreichische Entwicklungszusammenarbeit fördert Projekte und Programme im Bereich der Stärkung der Krisenfestigkeit und Wasserversorgung sowie der Nothilfe und Flüchtlingsbetreuung, um vor allem die Gesundheitsversorgung sicherzustellen.” Bestrebungen der Agentur nach diesem klar definierten Ziel wurden aber genau bei einer rasanten Eskalation der Kriegslage und damit einhergehender Gefahrenzunahme für Zivilisten eingestellt. Außenminister Alexander Schallenberg verkündete nämlich zwei Tage nach dem 7. Oktober, dass die Zahlungen aufs Eis gelegt werden, um auf Terrorismuszusammenhang überprüft zu werden. Erst zwei Monate später, am 7. Dezember, wurden die Prüfungsprozesse abgeschlossen und die Gelder wieder freigegeben. Was stellte sich also heraus? Die Zahlungen zeigten laut der Agentur “keine Hinweise darauf, dass von der ADA geförderte Projekte für Terrorismusfinanzierung oder -förderung oder für die Verbreitung von antisemitischen Inhalten missbraucht wurden.”

Innerhalb der Zeitspanne dieses Untersuchungsverfahrens, sprich zwischen dem 9. Oktober und dem 7. Dezember 2023, überschritten laut Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza die palästinensischen Todesfälle – darunter Verhungerte und medizinisch Unterversorgte – über 17.000 Personen.

Kritische Fragen

Abgesehen von alldem steht eine anfängliche Tatsache fest. Das Leben von 80 Prozent der Bevölkerung Gazas, wie bereits erwähnt, hing schon vor dem 7. Oktober von internationaler Hilfe ab. Ein aktiver Entzug dieser notwendigen Hilfe, geschweige denn bei Eskalation einer bereits verheerenden Lage, lässt einige Fragen auftauchen.

Handelte die OEZA gemäß ihren zuvor erwähnten Zielen der “Stärkung der Krisenfestigkeit” und der “Sicherstellung der Gesundheitsversorgung?”, oder ließ sie die Zivilbevölkerung Gazas genau dann im Stich, als es um Leben und Tod ging? Und ist die weitere Prüfung von bereits streng regulierten und überwachten Geldern eine Rechtfertigung für den Entzug von lebensnotwendiger humanitärer Hilfe im dringenden Krisenfall?

Schlussendlich eine größere Frage von hoher Bedeutung für die österreichische Politik und ihre Entscheidungsträger: Beteiligte sich der Außenminister Schallenberg mit seiner Begründung des Entzuges lebensnotwendiger Hilfsgelder auf Basis der Handlungen der Hamas etwa an einer Kollektivstrafe für unschuldige Menschen?

Literaturverzeichnis


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